Nutzen und Risiken von Antidepressiva
Ob Menschen mit Depressionen Antidepressiva nutzen möchten, hat häufig maßgeblich mit der erhaltenen Aufklärung durch Ärzt*innen und Fachpersonal zu tun. Mit diesem Artikel möchte ich Ihnen die Möglichkeit bieten Ihre eigene Meinung und Ihr Wissen bezüglich dieser Thematik auszubauen und zu bilden. Ich werde auf aktuelle Fachliteratur und groß angelegte Studien eingehen und verschiedene Positionen aufzeigen. Ziel ist es, vorliegende Befunde kritisch zu interpretieren und transparent an Betroffene zu kommunizieren.
Der Artikel wird sich kritisch mit der sogenannten "Serotonin-Hypothese" und der Wirksamkeit von Antidepressiva auseinander setzen. Die Serotonin-Hypothese postuliert, dass ein Mangel oder ein Ungleichgewicht des Neurotransmitters Serotonin für Depressionen verantwortlich ist. Ein Großteil der Bevölkerung schenkt dieser Hypothese bis heute Glauben. Serotonin ist auch bekannt als das "Glückshormon". Der empirischen Forschung ist es allerdings bis heute nicht gelungen diese Hypothese zu Bestätigen und die Wirkmechanismen, die hinter Depressionen stehen, bleiben weiterhin unklar. Joanna Moncrieff und Mark Horowitz, zwei britische Psychiater, veröffentlichen 2022 mit anderen ein Literaturreview, in dem ebenfalls keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Depressionen und Serotonin gefunden werden konnten. Serotonin kann im Gehirn nicht direkt gemessen werden, deshalb wählen bisherige Untersuchungen Scans von Serotonin-Rezeptoren oder die Analyse von Blut, Plasma, Urin und Liquor. Egal mit welchen Methoden die Untersuchungen durchgeführt wurden, einen systematischen Unterschied im Serotonin-Gehalt zwischen depressiven und nicht-depressiven Menschen wurde nicht gefunden. Somit hat also das populärste Erklärungsmodell der Depression keine Belege!
Viele Psychiater*innen vertreten die Position, das diese Befunde nichts ändern, da Depressionen eben eine "komplexe Krankheit" sind und die Wirkung von Antidepressiva auf den Hirnhaushalt sei ebenfalls entsprechend "kompliziert". Die Wirkweise bleibt unverstanden.
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Bezüglich der Wirksamkeit von Antidepressiva gab es ebenfalls 2022 eine groß angelegte Meta-Analyse, die zahlreiche vorausgehende Studien unter sich vereint hat. Diese Analyse betrachtet nicht nur durchschnittliche Veränderungswerte, sondern individuelle Verlaufsdaten von Personen mit Depressionen. Durch dieses individuellere Betrachten von Betroffen können unterschiedliche Verlaufsmuster und Varianzen besser abgebildet werden. Die Depressiven in diesen Studien bekamen entweder ein Placebo-Medikament oder ein Antidepressivum verabreicht. Der untersuchte Datensatz der FDA (Food and Drug Administration) umfasste 73.000 Teilnehmer*innen. Im Durchschnitt betrachtet konnte bei dem Vergleich Placebo und Antidepressiva, mit 1,75 Punkten Differenz auf der Hamilton-Skala (HAMD), für die beiden Interventionsgruppen kein signifikanter Unterschied gefunden werden. Die Hamilton-Skala ist das Standardmessinstrument zur Ermittlung des Schweregrads depressiver Störungen und hat 52 Stufen. Eine Differenz von 1,75 ist also als entsprechen klein zu werten. Kliniker*innen geben erst ab ca. 7 Punkten Unterschied auf der HAMD an, eine geringfügige Verbesserung an depressiven Menschen zu beobachten.
Wenn man sich nun allerdings nicht die durchschnittliche Verbesserung betrachtet, sondern wie unterschiedlich stark verschiedene Teilnehmer*innen auf die Behandlung ansprachen, können bestimme Veränderungsmuster beobachtet werden. So zeigt sich hier in dieser individuelleren Betrachtung ein Vorteil des Medikaments gegenüber des Placebos. Deutlich häufiger (Medikamentenbedingung: 24,5%, Placebo-Bedingung: 9,6%) zeigten diejenigen, die ein Medikament bekommen hatten eine "große Veränderung" (durchschnittlich 16 Punkte). Eine "minimale Reaktion" (durchschnittlich 1,7 Punkte) kam in der Medikamentenbedingung nur halb so oft vor wie in der Placebo-Bedingung. Schnell entstand hier der Gedanke es könnte sowas wie "Super-Responder*innen" geben, die von der medikamentösen Behandlung massiv profitieren. Gibt es also spezifische Fälle in denen Antidepressiva eine Wirkung haben, die über den Placebo-Effekt hinaus geht?
Mit Sicherheit lässt sich das aus diesen Befunden nicht schließen und natürlich erhebt die Gegenseite kritische Einwände. Irving Kirsch, Psychologe, Depressionsforscher an der Harvard Medical School und Co-Autor dieser Meta-Analyse, äußerte sich bezüglich der Idee der "Super-Responder*innen" wie im Folgenden zusammengefasst.
Zum einen waren große und minimale Veränderungen eher selten. Ungefähr zwei Drittel aller Teilnehmer*innen zeigte eine mittelgroße "unspezifische Antwort" (durchschnittlich 8,9 Punkte) unabhängig davon, ob sie ein Placebo oder ein Medikament bekommen hatten. Zum anderen wies er auf ein altbekanntes Methodenproblem bei randomisierten Kontrollgruppenstudien hin. Antidepressiva haben Nebenwirkungen, diese werden von Studienteilnehmer*innen erkannt. Durch dieses Erkennen von Nebenwirkungen weiß die Medikamentengruppe auch mit relativ großer Sicherheit, dass sie das Medikament und kein Placebo erhalten hat. Aus anderen Forschungsarbeiten von Kirsch ist bekannt, dass diejenigen, die richtig erraten, dass sie das Antidepressivum einnehmen, bessere Behandlungsergebnisse erzielen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass auch bei einer Analyse auf individueller Ebene der Unterschied zwischen Antidepressivum und Placebo gering ist. Die Wahrscheinlichkeit, auf eine Behandlung gut anzusprechen, erhöht sich um insgesamt 15 Prozentpunkte, wenn man statt einem Placebo (ca. 10%-Wahrscheinlichkeit) ein Medikament einnimmt (ca. 25%-Wahrscheinlichkeit). Das bedeutet aber auch, dass es für 85% der Patient*innen keinen Unterschied macht, ob sie ein Placebo oder ein Antidepressivum einnehmen.
Weiterhin befand diese Meta-Studie, dass zwar mit zunehmender Schwere der Depression auch die Wirksamkeit von Antidepressiva steigt, dieser Anstieg allerdings als verhältnismäßig gering bewertet werden kann (0,09 Punkte pro Punkt auf der Hamilton-Skala). Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass es einen Wirksamkeitsunterschied von Antidepressiva im Schweregrad von Depressionen gibt. Es bleibt allerdings fraglich, ob dieser Unterschied klinisch relevant ist. Es ist also nicht zwingend notwendig, Antidepressiva für schwer depressive Menschen mit mehr Nachdruck zu empfehlen.
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Was sind nun abschließend die Implikationen, die sich aus der aktuellen Forschung für die Praxis ableiten lassen?
Auf der Seite der Befürworter*innen von Antidepressiva ließe sich wohl folgendes Fazit ziehen:
"Antidepressiva erzeugen im Durchschnitt minimal größere Effekte als Placebos. Die Chance zu den sogenannten "Super-Responder*innen" zu gehören, die eine deutliche Verbesserung durch das Antidepressivum erfahren, liegt für Sie bei ca. 15%."
Auf der Seite der Skeptiker*innen wird folgendes Fazit geäußert:
Diejenigen, die vor der Entscheidung stehen, Antidepressiva einzunehmen, sollten wissen, dass es keine Belege dafür gibt, dass ein Neurotransmitter-Ungleichgewicht ausgeglichen werden muss. Weiterhin, dass es kaum Daten zu ihrer Wirkung und Sicherheit bei der Langzeiteinnahme gibt oder dazu, wie sich diese auf das Gehirn auswirkt. Moncrieff empfiehlt deshalb, dass man sich bei der Einnahme von Antidepressiva überlegt, welche Wirkung und welche Nebenwirkungen verspüre ich durch diese Einnahme?
Sehr häufig auftretende Nebenwirkungen sind sexuelle Unlust, Gewichtssteigerungen, Übelkeit, Benommenheit oder Müdigkeit. Zudem können Schwierigkeiten beim Absetzen von Antidepressiva auftreten.
Im Gegensatz zu dem biologischen Erklärungsmodell gibt es auch ein soziales Erklärungsmodell. Dieses interpretiert Depressionen als ein sozial bedingtes Leiden, das durch Antidepressiva vereinzelt gelindert, keinesfalls aber "geheilt" werden kann. Dieses Modell postuliert, dass Depressionen eine Reaktion auf soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung sind. Bevor Sie also für sich selbst eine Entscheidung treffen, möchte ich hiermit die Gelegenheit bieten, sich anhand dem Stand der empirischen Forschung ein breiteres Bild zu dem Thema Antidepressiva zu machen.
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Padberg, T. P. (2022). Wie spricht man mit Klient*innen „empirisch richtig“ über Antidepressiva?: Ein Update zu „Placebos, Drogen, Medikamente. Der schwierige Umgang mit Antidepressiva“. Psychotherapeuten Journal, 336–341.